»Ich habe keine Aids-Toten«
Interview mit Simon Froehling
Der 32-jährige Schweizer Autor Simon Froehling hat mit seinem Erstlingsroman »Lange Nächte Tag« zum Thema Liebe und HIV viel Beachtung gefunden. Wir haben ihn anlässlich einer Lesung im Roten Salon der Volksbühne Ende Mai getroffen.
Stimmen in der Stadt: Was interessiert dich am Thema HIV im Jahr 2010?
Simon Froehling: Ein Aspekt ist sicher, dass HIV gewissermaßen verschwunden ist. Die Krankheit ist unsichtbar geworden. Was dazu geführt hat, dass man weniger über sie spricht. Ich beobachte eine große Risikobereitschaft. Und ein Punkt, über den ich nie etwas lese, ist der Reiz des Risikos. Seit das Buch veröffentlicht ist, haben sich drei recht junge Bekannte von mir mit dem Virus angesteckt. Und ich würde sagen, bei allen dreien war das Spiel mit dem Feuer, das möglicherweise bewusste Inkaufnehmen der Ansteckung mit im Spiel.
SidS: Wieso würde sich jemand bewusst einer HIV-Ansteckung aussetzen?
SF: In meinem Roman gibt es eine Begegnung zwischen Patrick und Jirka, die sich ineinander verlieben. Jirka infiziert sich mit HIV. Patrick merkt, dass Jirka sich mit diesem Virus von ihm zu entfernen beginnt, dass er etwas erlebt, was auf eine unverständliche Art und Weise identitätsstiftend ist. In dem Buch ist von einem Mal die Rede, das Jirka auszeichnet, und von einer Kette. Das Virus als Kette, die die beiden zusammenschweißt. Das ist es, was Patrick dann sucht. Es geht ihm ganz stark um diese Nähe und um das Gleichsein. Und das ist ein Aspekt, den ich verstehen könnte: dass man das Bedürfnis hat, die Angst loszuwerden und gleich zu sein. Oder auch außerhalb einer Partnerschaft: irgendwo dazuzugehören. Das ist ein Thema, das noch wenig bearbeitet ist, dieser Verbundgedanke. Ich habe nur einmal darüber gelesen, ich glaube, 2005 war das, im »Rolling Stone«.
SidS: Bei Patrick entsteht eine richtige Sehnsucht, das Virus auch zu kriegen.
SF: Ja, genau, um diese Unterschiede zu überbrücken, diese Kluft, die da plötzlich entstanden ist. Dieses Dritte, was in die Beziehung eingebrochen ist, auch zu haben.
SidS: Und dann gibt es auch noch so etwas wie einen Kick…
SF: In einer Gesellschaft, in der die Schwulen immer mehr anerkannt sind, wächst vielleicht auch der Wunsch nach Subversiv-Sein, nach dem Anderssein, was früher viel stärker war. Ein hässliches Paradox, aber eines, das ich verstehen kann. Gerade in dieser virtuellen, oberflächlichen Welt, in der sich meine beiden Figuren bewegen, kann ich den Wunsch danach verstehen. Man weiß ja, dass Krankheiten aller Art identitätsstiftend sind. Weil sie alles einnehmen und lebensbestimmend sein können.
SidS: »Ein wütendes, skandalöses, ungemein zärtliches Buch«: So wird dein Roman im Buchhandel vorgestellt. Beginnen wir vorne: Wütend worauf?
SF: Meine Figur Patrick ist wütend, dass er sich so weit hat treiben lassen, dass es so weit gekommen ist. Es ist schon frustrierend, dass man sich das alles immer überlegen muss. Das kenn ich von mir auch, dass man immer wieder damit konfrontiert ist, dass etwas sehr Schönes, nämlich Sex – aus Liebe oder zum Lustgewinn – potenziell tödlich ist.
SidS: Das ist nichts Neues.
SF: Nein, aber es ist so, nichtsdestotrotz. Und ich verstehe auch, dass man, wenn man sich vielleicht mal zudröhnt, findet: »Ich scheiß jetzt da drauf. Soll passieren, was will. Es macht mir ’ne geile Nacht.« Und dann ist’s vielleicht schon zu spät. Und natürlich die Wut sich selber gegenüber, dass man so was gemacht hat.
SidS: Deine Protagonisten verkehren miteinander unter anderem über den »Blauen Salon« im Internet. Sie kommunizieren anders, als man es in den 80er- und 90er-Jahren tat, als HIV und Aids nicht zuletzt auch in der Literatur einen wichtigen Platz einnahm. Kommuniziert das Virus heute auch anders?
SF: Ja, die Kommunikation hat sich ins Virtuelle verlagert und das Virus in dem Sinne auch, dass es eben nicht mehr sichtbar ist. Wir sehen diese Bilder nicht mehr. Wir kennen sie aus älteren Filmen, aber diese Aids-Toten gibt es bei uns nicht mehr in der öffentlichen Wahrnehmung oder sehr, sehr viel weniger. Das ist sicher eine Generationenfrage. Ich habe gerade erst gestern nach einer Lesung mit einem älteren Herrn gesprochen, der diese Bilder alle noch hat. Als ich gesagt habe: »Wir sehen diese Bilder nicht mehr«, war seine Antwort: »Und ich sehe meine Bekannten nicht mehr. Weil sie alle tot sind.« Ich selbst kenne zwar viele Infizierte, aber ich habe keine Aids-Toten. Und den Infizierten sieht man nichts an. Wie gesagt: Das Virus ist unsichtbar geworden. Und etwas, was unsichtbar und nicht mehr wirklich greifbar ist, kommuniziert natürlich auch viel weniger als etwas, was man ständig vor Augen hat.
SidS: Braucht es deshalb vielleicht eine neue Sprache dafür?
SF: In meinem Buch gibt es Passagen, wo das thematisiert wird: Wie benennt man das Virus, was ist das Vokabular, um darüber zu reden? Meine beiden Romanfiguren nennen es »die Plage«. Vielleicht benutzen sie da auch Ironie, um etwas sehr Grausames zu schwächen.
SidS: Gibt es eine neue Tabuisierung von HIV und Aids?
SF: Ich finde es erschreckend, dass ich immer wieder gefragt werde: »Hast du nicht Angst, dass du jetzt als der Aids-Autor gelabelt wirst?« Es ist doch schrecklich, dass überhaupt jemand das Gefühl hat, ich würde mich ins Abseits schreiben, wenn ich so ein Thema anpacke.
SidS: Die Kritiken sehen dich jedenfalls nicht im Abseits. Wir wünschen deinem Buch viele Leser und danken dir für das Interview.
Das Interview führte Martin Kostezer