Abschied von Aids
von Martin Dannecker
Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker hat zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts den Begriff des »neuen Aids« eingeführt, um zu markieren, dass sich das Gesicht von HIV und Aids mit der Einführung der neuen Therapiemöglichkeiten verändert hat. Martin Dannecker hat am 19. Juni 2010 den Zivilcouragepreis des Berliner CSD erhalten. Für unsere Artikelserie hat er uns einen Redetext von 2005 zur Verfügung gestellt, der nichts an Aktualität verloren hat. Wir geben ihn in leicht veränderter und gekürzter Fassung wieder.
Heute lässt sich für die westlichen Industrieländern sagen, dass eine HIV-Infektion nicht mehr gleichbedeutend mit Aids ist. Man kann eine HIV-Infektion haben, aber man muss nicht unbedingt, vor allem nicht in absehbarer Zeit, auch Aids bekommen. Mehr noch, die antiretroviralen Medikamente können auch dazu verhelfen, ein medizinisch definiertes Aids in eine HIV-Infektion zurückzuverwandeln, einfach deswegen, weil durch die Behandlung die Aids definierenden Symptome zum Verschwinden gebracht werden können. Aids ist zwar auch hierzulande für jeden HIV-Infizierten weiterhin eine latente Bedrohung, weil die Möglichkeit, als HIV-Infizierter eines Tages doch an Aids zu erkranken, nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Gleichwohl ist hierzulande für HIV-Infizierte der Gedanke nicht abwegig auf unabsehbare Zeit »nur« HIV-infiziert zu bleiben.
Wenn Sie so möchten, haben die gesellschaftlichen Verhältnisse in den westlichen Industrieländern im Verein mit der medizinischen Kunst zu einer Situation geführt, die es ermöglicht, dass wir uns individuell und kollektiv von Aids verabschieden können. Überraschenderweise wird das aber von vielen nur halbherzig nachvollzogen. So wird Aids in seiner alten Bedeutung immer dann in Stellung gebracht, wenn es darum geht, der offenkundigen Erosion der HIV-Prävention Einhalt zu gebieten. So auch in jüngster Zeit als Reaktion auf den vom Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Anstieg der Neuinfektionen unter homosexuellen Männern. Besonders befremdlich fand ich einen Kommentar dazu, den mein Freund Jan Feddersen in der »taz« publizierte. In diesem Text wimmelt es nicht nur von falschen und gefährlichen Bildern. In ihm wird auch mit eigentlich überwunden geglaubten Zwangsvorstellungen hantiert.
Feddersen bedient sich, ganz so, als ob Aids die alte, mit dem gewissen und baldigen Tod zusammengeschweißte Bedeutung nicht längst verloren hätte, unverhohlen einer Rhetorik des Todes, was sich schon im Titel seines Kommentars niederschlägt, der lautet: »Der Tod ist keine Bagatelle«. Insinuiert wird damit und durch andere Stellen, dass diejenigen, die sich in jüngster Zeit infiziert haben, bewusst mit dem Tod spielten, ihn gleichsam in Kauf nähmen. Kein Wort davon, dass der so genannte Safer Sex real und in der Fantasie mit Einschränkungen der sexuellen Lust einhergeht. Und kein Wort davon, dass die weitaus überwiegende Mehrheit der Risikokontakte auf ein partielles bzw. situatives Scheitern der individuellen Präventionsabsichten zurückgeht. Wie andere auch skandalisiert Feddersen das »barebacking«, indem er es als letzten Schrei, also als eine von homosexuellen Männern bereitwillig akzeptierte Mode bezeichnet. Dabei ist gerade das Auftauchen des »barebacking« in der homosexuellen Subkultur ein deutliches Zeichen der Krise der HIV-Prävention und zugleich eine in Szene gesetzte Benennung der mit dem »Safer-Sex« einhergehenden Einschränkungen.
Am Schluss seines Textes wartet Feddersen gleichsam mit einer negativen Vision auf und fragt mit ungezügelter Drohgebärde, wie die Politik mit dem Phänomen der Neuinfektionen künftig umgehen wird. Wörtlich heißt es dazu: »Möglich, dass Neuinfizierte in der Solidargemeinschaft ›mitgeschleppt‹ werden – möglich allerdings auch, dass man bei Nachweis des Besuchs von riskanten Orten auf die Bezahlung der Medikamente verzichten möchte. Der Tod ist keine Bagatelle: Schwule Männer können das wissen – auch beim Sex.«
Fragt man nach dem Präventionskonzept, das diesen Vorstellungen zugrunde liegt, so wird ein Umschlagen von einer Hilfe zum adäquaten Handeln hin zu einem Zwang erkennbar. Human ist die Prävention dann, wenn sie sich als ein Mittel zum Zweck der Verhütung von Leiden begreift. Ihre humane Orientierung büßt die Prävention ein, wenn sie zu einer Diktatur der Gesundheit mit damit einhergehenden normativen Vorstellungen einer angemessenen sexuellen Lebensführung wird. Wer, wenn nicht eine noch einzurichtende Gesundheitspolizei, sollte den Nachweis führen, dass ein neu infizierter homosexueller Mann »riskante Orte« besucht hat? Und wer soll eigentlich darüber bestimmen, was riskante Orte sind? Eine diktatorische HIV-Prävention müsste auch die Liebe zu einem riskanten Ort erklären, weil sich Risiken nicht nur an bestimmten Orten der schwulen Subkultur, sondern auch in Beziehungen konstituieren.
Dass sich hierzulande absolut und relativ gesehen mehr homosexuelle Männer als heterosexuelle Frauen und Männer infizieren, hat vor allem mit der von Anbeginn an höheren HIV-Prävalenz unter den Homosexuellen zu tun und nicht mit einer spezifischen Psychopathologie der Homosexuellen oder mit dem homosexuellen Selbsthass, wie neuerdings wieder gemutmaßt wird.
Nicht, dass die Debatte über die Gründe für die zunehmenden Neuinfektionen unter homosexuellen Männern nicht geführt werden müsste. Man sollte dabei aber nicht zur Projektion der auch unter Heterosexuellen verbreiteten Präventionsschwierigkeiten auf Homosexuelle einladen, was immer dann geschieht, wenn die Schwierigkeiten, sich nach der Logik der Aids-Prävention zu verhalten, ausschließlich am Beispiel homosexueller Männer thematisiert werden. Einhellig wurden die gestiegenen Neuinfektionen als besorgniserregend bezeichnet. Dabei wäre es, ausgehend von den veränderten Bedingungen, eigentlich angemessener, von überraschend günstigen Neuinfektionszahlen zu sprechen.
Angesichts solcher Merkwürdigkeiten ist zu fragen, warum es vielen so schwer fällt, die HIV-Infektion als das zu akzeptieren, was sie hierzulande inzwischen ist, nämlich eine schwere und behandlungsbedürftige Krankheit. Seine besondere Bedeutung behält die HIV-Infektion freilich durch die ihr zumeist zugrunde liegende sexuelle Übertragung, was mit Schuld- und Schamgefühlen einhergeht und zugleich zu Zuschreibungen von Schuld und Versagen führt. Gleichwohl kann man fragen, warum gerade jetzt, wo die Bedingung der Möglichkeit, die HIV-Infektion als nicht mehr unmittelbar mit dem Tod verschränkt zu begreifen, günstiger als zuvor ist, wieder und wieder mit so schwerem Geschütz wie dem Tod aufgewartet wird. Und warum wird ständig so getan, als ob die häufigeren ungeschützten sexuellen Kontakte ein Zeichen für zunehmenden Leichtsinn wären? Und warum wird den Neuinfizierten vorgehalten, dass sie sich so hätten verhalten sollen, als ob eine HIV-Infektion noch das wäre, was sie nicht mehr ist? Eine Erklärung für dieses Beharren auf der alten Bedeutung von Aids liegt in der eng mit den Erfolgen der Kombinationstherapien zusammenhängenden Krise der Prävention. Eine andere Erklärung ist, dass es vielen im Aids-Bereich Tätigen schwer fällt, von der Bedeutung verleihenden alten Bedeutung von Aids Abschied zu nehmen. Nicht nur Aids hat sich banalisiert. Das banalisierte Aids banalisiert auch die HIV-Infizierten und alle die professionell mit Aids zu tun haben. Und nicht wenige wünschen sich ganz gegen ihre bewusste Absicht etwas von der alten schrecklichen Bedeutung von Aids zurück, weil diese Türen öffnete und auf paradoxe Weise Rang verliehen hat.
Die Rhetorik des Todes fungiert ganz offenbar als Abwehr der Angst vor der sich aus dem Schatten von Aids entfernenden Sexualität – und das sowohl individuell als auch kollektiv. Denn die Umschreibung der HIV-Infektion hat auch bewirkt, dass die vorher ganz unter dem Zeichen von Aids stehende Sexualität wieder freier geworden ist und stärker als zuvor ihre Eigendynamik entfaltet. Das führt nolens volens zu häufigeren Risikokontakten und in der Folge auch zu zunehmenden Infektionen. Es geht jetzt beim sexuellen Handeln vermehrt darum, das HIV-Risiko auf ein individuell akzeptables Maß zu reduzieren und zugleich darum, die mit der Risikominimierung einhergehende Einschränkung der Sexualität auf ein individuell akzeptables Maß zu bringen. Dass der an Leibfeindlichkeit grenzende Umgang mit der Sexualität während des Höhepunkts der Aids-Krise, der auch immer eine Distanzierung vom sexuellen Körper des Anderen eingeschlossen hat, worunter besonders die HIV-Infizierten zu leiden hatten, einer wieder größeren sexuellen – und das meint immer auch emotionalen – Nähe gewichen ist, sollte als positiv angesehen werden und nicht als Ausdruck eines um sich greifenden, die Infektionsrisiken völlig negierenden Leichtsinns. Zu einem solchen Leichtsinn wird es, solange die HIV-Infektion in der Welt ist und mit relevanten Einschränkungen der Lebensqualität einhergeht, nicht kommen. Gleichwohl sind HIV-Neuinfektionen nicht vermeidbar und sie werden, da der sexuelle Sinn bei uns wieder leichter gestimmt ist, wahrscheinlich auch zunehmen.
Wer glaubt, Neuinfektionen seien bei entsprechenden Anstrengungen auf jeden Fall vermeidbar, spricht den Menschen ihre immer auch konflikthafte Seele einschließlich ihrer genuin konflikthaften Sexualität ab. Beide richten sich nicht durchgängig nach dem, was unter präventionslogischen Gesichtspunkten als wünschenswert und rational bezeichnet wird. Weil das so ist, sollten wir auch freundlicher, vor allem aber solidarischer auf die Neuinfizierten blicken, als das derzeit der Fall ist.